Jens Balzer: Das entfesselte Jahrzehnt (Buch)

Warum die Siebziger Jahre wichtig waren, hat vier Buchstaben, fängt mit P an und hört mit UNK auf. Keine Frage. Aber natürlich ist in diesem Jahrzehnt noch viel mehr passiert, was Beachtung verdient hat. Der Journalist Jens Balzer hat das jetzt im umfangreichen, lehrreichen und gleichzeitig unterhaltsamen Buch „Das entfesselte Jahrzehnt“ zusammengefasst.   

Balzers Siebziger beginnen bereits 1969 und damit im Geburtsjahr des Autors. Und zwar mit zwei ganz prägenden Ereignissen, die prägend sein sollten: Das Woodstock-Festival und die Mondlandung, die beide auf komplett unterschiedliche Weise das noch nicht begonnene Jahrzehnt prägen sollten.

Zunächst ist aber ungewöhnlich, dass der Autor nicht so primär chronologisch vorgeht, sondern seiner Erzählung anhand einzelner Phänomene der Zeit über die ganzen Siebziger erzählt – und das ist so ziemlich alles, was politisch und kulturell irgendeine Rolle gespielt hat von der Roten Armee Fraktion und Naziverehrung bis zu den harmlosen Pril-Blumen und der Sesamstraße reichen. Der Schatz, aus dem Balzer schöpft, ist reichhaltig und wird gelegentlich sehr kreativ für das Buch in einen Kontext gestellt. Auf jeden Fall wird es nicht langweilig, auch wenn einem gelegentlich etwas schwindelig wird bei all den Sprüngen und der Fülle von Informationen.

Man liest und hat im „entfesselten Jahrzehnt“ immer wieder „Ach was“-Erlebnisse. Zum Beispiel, dass ausgerechnet der schwer tablettenabhängige Nixon-Fan Elvis sich persönlich dem US-Präsidenten als Drogenfahnder anbot, oder das „Der Herr der Ringe“ sowohl in der linksalternativen  als auch der rechten Szene Identifikationsansätze bot oder warum Kermit der Frosch der Prototyp des Softie-Mannes war. Auch, dass es mit Autorinnen wie Ursula K. L Guin, Joanna Russ und Shulamith Firestone eine feministische Gegenbewegung in der SciFi-Szene gab, die explizit weiblich dominierte Science Fiction-Werke wie „The Female Man“ (in dem viele später Diskussionen um Dekonstruktion von Geschlechterrollen vorweg genommen wurden), war mir neu. Manches ist auch nur sehr unterhaltsam, wie das Kapitel über die kurze Geschichte Frisuren, allem voran den Vokuhila.

Was natürlich immer wieder eine Rolle spielte, war Sex, Sex, Sex. Das wundert wenig, denn die Siebziger waren mit Glamrock, Schulmädchenreport und der Frauenbewegung, der schwulen Diskokultur und und und… das Zeitalter, in dem wohl die meisten sexuellen Umwälzungen stattfanden, auch wenn man von heutigen Standards und vor allem Frauenbildern noch weit entfernt war. Dankbarerweise hat Balzer aber häufig eine feministische oder zumindest aufgeklärte Sicht auf die Dinge, wenn er beispielsweise die Frauendarstellungen in Druckerzeugnissen aus der linksalternativen Underground-Comicszene von Robert Crumb zwar in einen Kontext einordnet, aber auch kritisiert und nicht einfach achselzuckend mit einem „So war das eben damals“ hingenommen wird.

Punk spielt, wenig überraschend, neben Glam und Krautrock auch eine entscheidende Rolle in Balzers Buch. Hier wählt er einen interessanten Ansatz, der bisher nicht so häufig in nicht-szenespezifischen Büchern über Punk gewählt wurde. Er erklärt, warum Punk keine ursprünglich linke Subkultur war (und ist?) und schlägt dahin den Bogen von den üblichen Hakenkreuz-Posereien zu Ian Stuart Donaldson und Skrewdriver. Für Punk-Nerds nichts ganz Neues. Alle anderen dürfte es aber überraschen.

Einiges wirkt dabei aber auch ein wenig konstruiert und aufgebauscht. So verspricht ein Kapitel reißerisch, die Verbindung zwischen westdeutschem Terrorismus und Satanismus aufzudecken, wovon im Endeffekt übrigbleibt, dass Bommi Baumann von der „Bewegung 2. Juni“ mal „Heil Satan“ an eine Wand sprühte, dabei „Sympathy for the devil“ von den Rolling Stones hörte und gelegentlich teuflisch grüßte. Die steile These hätte man mehr untermauern müssen.

Das tut diesem unterhaltsamen und vielseitigen Ritt durch die Siebziger keinen wirklichen Abbruch. Auch wenn nicht alle der zahlreichen Zusammenhänge ganz schlüssig und wohl eher der Unterhaltung anstatt der peniblen Darstellung geschuldet sind, ist „Das entfesselte Jahrzehnt“ ein populärwissenschaftlicher Spaß, der intelligent und spannend ist und in dem wahrscheinlich jede*r Leser*in auf über 400 Seiten mindestens eine Sache oder ein Detail findet, was sie oder ihn nachhaltig fasziniert.

Jens Balzer: Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er.
rowohlt Berlin
430 Seiten
26.00 Euro