Wenn der Punkopa erzählt

(Ein autonomes Zentrum Mitte der Achtziger. Die Stimmung ist bierselig. Wegen der lauten Punkmusik ist der Dialog nur schwer zu verstehen.) Er [Glanz in den Augen]: „Weißt du, ’77 in London, ich war da, als es passiert ist …“ Ich [höflich]: „Ja.“ Er [Mehr Glanz in den Augen]: „Roxy, die UK Subs, Siouxsie hing da rum … “ Ich [mäßig interessiert]: „Hm.“ Er [Ein feuchter Schimmer in den Augen, er wird doch nicht …]: „Wir haben echt zusammengehalten damals, fairer Pogo, weißt du, wenn einer hinfiel, haben wir ihn sofort wieder hochgeholt …“ Ich [Oh Herr, lass Abend werden]: „Äh, ja toll, ich geh‘ mir mal ein Bier holen. Bis später.“

Wo war ich eigentlich ’77? Nach Hausaufgaben, Fernsehen und Pipi machen meistens recht früh im Bett. Später war ich nie am Brunnen auf der Münzstraße und ich kannte Willi Wucher nicht persönlich. Aber es war mir egal. Ich hatte keine Born-too-late-Symptome. Das europäische Hardcore-Ding stand in voller Blüte und ich stürzte mich hinein.

Man ist halt immer zu spät. Ich habe die Dead Kennedys ’82 nicht im Hyde Park gesehen. Du Fugazi nicht im AK47. So what? Swen Bock ist eine ’89er-Spätlese und hat Negazione nicht im Eschhaus gesehen. Er kann mit diesem Makel leben.

Manche können das nicht. Sie leiden an Born-too-late. Leichte Opfer für Geschichtenerzähler. Die waren dabei und es war immer le-gen-där! Die ambitionierten unter ihnen schreiben auch gerne gerade an einem Buch. Thema: Sie waren dabei und es war le-gen-där! (Ich habe übrigens einen Titelschutz für „Wie ich David Grohl Backstage im Old Daddy die Meinung geigte.“) Die Selbsthistorisierung nervt. Okay, du bist dabei gewesen. Und du hattest Sex. Und? Was hast du sonst so gemacht? Deine Kinder anders erzogen? Den Job anders gemacht? Mit deinem Punkerdasein die Welt verbessert? Erzähl doch mal darüber was! Und erspar mir deinen Lokalpatriotismus. Die Szene in Düsseldorf war ganz besonders toll, hab‘ ich schon von gehört und gelesen.

Ja, ich weiß, es war ’ne geile Zeit (Juli). Ich hatte noch Haare und war 20 Kilo leichter und wir slamten zum Herzschlag der besten Musik. Von Zeit zu Zeit guck‘ ich mir die alten Fotos gerne an. Aber sooooo geil war es dann doch wieder nicht. Totale Männerdominanz, Machismo, idiotische Grabenkämpfe, Egotrips, Regeln, Kleiderordnung … das war auch alles da. Tatsächlich war es auch des Öfteren einfach nur langweilig, stumpf und durchschnittlich und eben nicht le-gen-där!

Verklärung ist der Feind. Die lebende Legende von damals ist im Zweifelsfall auch nur ein Arschloch wie du und ich. Die aktuelle Cro-Mags-Reinkarnation wird dich 2019 nicht in das CBGB der Achtziger versetzen. Komm darauf klar. Du brauchst den Re-Release von M.A.F. gar nicht. Und komm‘ mir nicht mit „historisch wichtig“. „Historisch“ ist leider ein Nullwort geworden. Sportreporter haben es auf dem Gewissen. „Hoffenheim zum neunten Mal in Folge auf eigenem Platz in den ersten dreißig Minuten ohne Gegentor. Rekord! Rekord! Historisch! Historisch!“ Das Gerumpel auf dem zweiten Demo von (such dir etwas aus) ist kein historisches Dokument, das dringend auf Vinyl gebannt werden muss, sondern nur Gerumpel. Ist so. Manches hätte völlig zu Recht in Vergessenheit geraten können. Aber vielleicht sind wird die nostalgischste Subkultur ever?

Ich versuche, so oft ich kann, im Hier und Jetzt vorbeizuschauen. Manchmal bin ich Alterspräsident, was sich komisch anfühlen kann. Manchmal ist es auch einfach nur langweilig, stumpf und durchschnittlich. Aber ich habe gute Chancen im Hier und Jetzt dabei zu sein, wenn das Neue, Aufregende, Unfassbare passiert.

(Beitragsfoto von Helge Schreiber)