Karl Nagel – Schlund (Buch)

Er hat es endlich getan! Ende 2018 hat auch Karl Nagel endlich sein Buch herausgebracht. Nachdem gefühlt jede*r Altpunk*erin über 50 in Ost und West einmal aufgeschrieben hat, dass sie oder er irgendwann mal der oder die Geilste war, kommt nun ein Buch von jemandem, der wirklich mal was gerissen hat und immer noch für eine Überraschung gut ist. Für die Älteren unter unseren Lesern, die jetzt keinen Blick in Karl Nagels Wikipedia-Eintrag werfen wollen sei nur kurz gesagt: Auf sein Konto gehen unter anderem die legendären Chaos-Tage von Hannover sowie die APPD. Letzteres war mal so etwas wie DIE PARTEI in lustig. Das sind schon einmal zwei Orden, die an seiner Brust haften – oder zwei Eisenkugeln, die ihm am Bein hängen, je nach Perspektive.

Seltsam also, dass „Schlund“, wie das Buch heißt, nun erst jetzt erschienen ist, zumal Nagel nicht gerade als schreibfaul gilt. Vielleicht schüttelt man aber fast 400 Seiten nicht gerade aus dem Ärmel, zumal Karl Nagel schon immer Perfektionist war in allem, was er tat und tut. Ein dementsprechender Kampf muss das Schreiben gewesen sein, eben gerade, weil ihm soviel passiert ist.

„Schlund“ ist trotzdem keine reine Autobiografie geworden. Geschätzt bis gefühlt zwei Drittel des Buches sind autobiografisch gehalten, teilweise sind Wahrheit und Fiktion auch verwoben. Außerdem ist es ein erklärter Schundroman, der direkt fiktiv und schmutzig anfängt: Nagel hat einen Job bei der Verleihung der Goldenen Kamera 2004 und nutzt diesen, um allerlei Film- und Fernsehprominenz abzuschlachten. Doch nur ein schöner Traum, denn es geht direkt weiter mit dem realen Nagel: Mitte 50, frisch geschieden, kreativ ausgebrannt, finanziell wackelig und gefangen zwischen der gehassliebten Punkvergangenheit, Gelegenheitsjobs, regelmäßigen Besuchen im Kaufland und noch regelmäßigerem Konsum von allerlei Krawallmedien und -nachrichten. Das ist der Sockel von „Schlund.“ Alte Weggefährten, ob tot oder lebendig, grüßen regelmäßig. Neue hingegen kommen kaum noch dazu. Ausführlich geht es um die Liebe des Protagonisten zu Trivialkultur, angefangen von Fix und Foxi über Perry Rhodan bishin zum Marvel-Universum. Neben Punkrock ein weiterer roter Faden in „Schlund.“

Die Story macht einige Sprünge. Urplötzlich findet man sich im Wuppertal der Sechziger Jahre mit Karl Nagels Geburt wieder. Der schwer alkoholkranke Vater setzt dem jungen Peter Altenburg, der noch nicht Karl Nagel ist, deutlich zu. Der bricht aus und findet mit einem Umweg über Alice Cooper in Punk die Erlösung. Er macht eine Art Karriere in der Szene, wenn man das so nennen möchte. Dort merkt er dann regelmäßig und von Anfang an, dass dort auch nicht alles Gold ist, was glänzt. Das „damals“ und das „heute“ wird kunstvoll gegenüber gestellt. Statt mit Medien und Staatsmacht stellt Nagel 2018 sich dem Kampf mit Siri, seinem Erzfeind Berger und ein paar gescheiterten Frauengeschichten. Noch immer ist er auf ständiger Identitätssuche. Auf den letzten hundert Seiten gibt es nochmal einen kompletten Bruch in der Geschichte, aber das fiele unter Spoilern und wird hier nicht erwähnt.

Um „Schlund“ zu bewerten, muss vorher noch einmal gesagt werden: Das Buch ist erklärtermaßen im Genre der Schundliteratur angesiedelt und gleichzeitig eine Hommage und eine Parodie auf die Gattung. Ein Spagat, der gelingt. Es macht Spaß, Nagel in seine irren Gedankengänge zu folgen, bis man den Überblick verliert, irgendwo falsch abbiegt und sich selbst völlig verirrt oder der Hauptfigur beim ständigen Scheitern genüsslich zuzusehen. „Schlund“ ist, trotz zahlreicher Wiederholungen, an keiner Stelle langweilig, denn Nagel kann wirklich schreiben und versteht es, den oder die Leser*in bei der Stange zu halten und interessante Bilder zu erzeugen (zu den realen, die tatsächlich enthalten sind). Verblüffend, denn über weite Strecken passiert gar nicht so viel im Roman. Wenn man einige der Anspielungen versteht oder die realen Personen hinter den Namen identifizieren kann, macht es noch mehr Spaß. Interessant ist aber auch, was fehlt. Die APPD kommt lediglich in Form eines Synonyms vor und nicht als Partei.

Einige Plattitüden kann man großzügig überlesen. Etwas hängengeblieben wirkt der Autor bei seinem stetigen Kampf gegen Political Correctness, den er auch in „Schlund“ kämpft. Der innige Wunsch des (weißen) Verfasser, endlich wieder (?) unwidersprochen „Neger(küsse)“ sagen zu dürfen, wirkt nach jahrzehntelangen Endlos-Debatten etwas anarchronistisch und aufgebrüht. Den haben ganz andere übernommen und die sitzen sogar im Bundestag. Edgy geht anders. Weiterer inhaltlicher Kritikpunkt: Die redundanten extremismustheoretischen Rechts-Links-Gleichsetzungen kenne ich von Nagel, aber da er sich ausschließlich an von ihm beobachteten Oberflächen und Ausdrucksformen der „Nazis“ und der „Antifa“ abarbeitet und daraus angebliche Gemeinsamkeiten präsentiert, bleibt er da wie schon immer unter seinem intellektuellen Möglichkeiten. So auch in „Schlund“, wo er es sich wieder sehr einfach macht. OK, es ist kein Sachbuch, sondern ein teilfiktionaler Roman, aber diese Standpunkte vertritt Nagel seit langem auch außerhalb des Romans.

„Schlund“ hat aber vielen Büchern, die sich mit Punk beschäftigen, deutlich etwas voraus: Es ist keins der üblichen „Opa erzählt begeistert vom Krieg“-Wälzer, die das Subkulturgenre sowohl als Sachbuch als auch als Fiktion dominieren. Die Grundstimmung in „Schlund“ ist erfrischend schlecht, was es im Genre ziemlich besonders macht. Damit steht es bei allen Unterschieden irgendwie in der Tradition der NoFX-Biographie „Die Hepatitis-Badewanne“, wo die Band ebenfalls schonungslos mit sich selbst abrechnet, statt sich ausdauernd auf sich selbst einen runterzuholen, wie es üblich in der Branche ist. Eine ausdrückliche Empfehlung an diejenigen, die nichts von der Romantisierung von Punk halten und einfach mal wieder Lust auf einen Schundroman haben. Ältere Semester dürften hier mehr auf ihre Kosten kommen als Jungzecken.

Philipp Meinert

P.S. Und wer nicht genug bekommen kann: Mit „Reflux“ ist ein kleines Ergänzungsbändchen erschienen, das eigentlich eine Neuauflage von Karl Nagels 80er-Fanzine „Hackfleisch“ werden sollte, dann aber doch ein kleines Büchlein wurde. Eine LP zum Buch gibt es ebenfalls.

Karl Nagel: Schlund
Hirnkost Verlag
Berlin 2018
374 Seiten
25,00 Euro